Thomas Kessler

Thomas Kessler Portrait
(Bildquelle: T. Kessler)
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Thomas Kessler darf man sicher als einen extrem vielseitigen Musiker bezeichnen. Ersten Veröffentlichungen im Jazz-Bereich folgt das Mitwirken in zahlreichen Bands wie Dissidenten, Drums Off Chaos oder Trance Groove. Eigene Projekte entstehen wie Le Son des Couleurs oder zuletzt die Piano-Solo-Veröffentlichungen Piano Diaries und Piano Lullabies. Fantastische Piano-Miniaturen, die einen auf mysteriöse Weise in den Bann ziehen. 

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Man muss ja nicht immer gleich irgendwas werden…

Thomas empfängt mich in seinem Düsseldorfer Studio. Ein Raum mit einer angenehmen Atmosphäre. Ein kreativer Rückzugsort, der aber auch wie ein bedacht strukturierter Arbeitsplatz auf mich wirkt – wohl ein Hinweis auf Thomas’ zweiten Beruf: Er ist Architekt. Auch in seiner Musik hat alles seinen Platz und seine Stücke haben ein tief ruhendes, konzentriertes Element.

Die Piano Solo-Stücke scheinen die Stille zu durchbrechen, um dann den Raum mit feinen Klangnuancen zu erfüllen. Jedes Stück für sich eine kleine Piano-Miniatur, die auf gekonnte Weise zwischen Hintergrund und Aufmerksamkeit changiert. Diesen Nuancen kann man lauschen oder sie als freundliche Einladung wahrnehmen zu einem musikalischen Spaziergang durch Romantik, Moderne, Impressionismus. Und doch bleibt es ein Rätsel: Ist es Improvisation oder Komposition? 

Ich glaube, zum ersten Mal habe ich dich damals als Keyboarder bei der Band Dissidenten wahrgenommen, dann später in Köln bei Trance Groove zusammen mit Stefan Krachten und Helmut Zerlett. Mit deinen Piano-Solo-Alben würde ich dich eher als Botschafter der stillen, leisen Töne sehen. Hättest du selber vermutet, welche Entwicklung du musikalisch machen wirst? 

TK: Man muss ja nicht immer gleich irgendwas werden. Es gibt da nicht diesen festgezurrten Gedanken, dass du irgendwas erfüllen musst, um irgendwas auf einem Instrument abzuliefern. Sondern es geht darum, dass das, was an Musik in dir lebt, einen Ausdruck finden kann. Für den einen sind das Millionen von Tönen – der wird dann vielleicht ein Rachmaninow, und jemand anderes kommt eben mit 2-3 Tönen pro Minute aus… (lacht) 

…und lebt in den Nuancen und Pausen dazwischen. 

TK: Genau, wie lautet doch das Zitat von W.A. Mozart: Die Stille zwischen den Noten ist ebenso wichtig wie die Noten selbst.“ Ich würde es sofort unterschreiben. 

Über Stille und die Dimension der Töne

Schon faszinierend, wie erst durch die Stille die Töne Dimension bekommen. 

TK: Man fängt ja sowieso bei der Stille an. Deswegen ist mir total wichtig, dass es hier im Studio so schön still ist. Ich habe vor einiger Zeit mit einem Projekt begonnen, das heißt Le Son des Couleurs – der Klang der Farben. Es geht hier um synästhetische Erfahrungen. Also: Wäre eine Farbe eine Musik, wie würde diese Musik dann klingen? Die Idee bei diesem Projekt ist, meine beiden Professionen Architektur und Musik zusammenzubringen. Der Aufhänger war für mich ein Buch von Le Corbusier, auf das ich während meines Architekturstudiums gestoßen bin. Er hat damals eine Farbsystematik entwickelt, woraus dann die so genannten Farbklaviaturen hervorgegangen sind. Das hat mich fasziniert, überhaupt natürlich der Titel: Les Claviers de Couleur. Das hat mich motiviert, für 20 dieser Farben Ambientmusik zu entwickeln. Und das entstand jeweils aus der Stille heraus. In dem Buch gibt es so Farbseiten … 

Während du gerade die Seiten durchblätterst, verstehe ich was du meinst: Jede Seite ist im Prinzip eine Fläche aus einem einzigen Farbton. Dabei haben die Farben jedoch eine bemerkenswerte Tiefe. 

TK: Es handelt sich dabei um eine ganz spezielle Pigmentierung. Ich habe dann mir immer so eine Seite aufgeschlagen und eine Weile auf mich wirken lassen. Und dann habe ich sehr langsam angefangen, Sounds aufzunehmen. Aus der Stille heraus. Dieser Moment ist mir total wichtig. 

Das kann ich total gut nachvollziehen, hier in deinem Studio findest du sicher auch diese Stille. Zumindest strahlt es diese Atmosphäre aus. Und wenn mein technisches Ohr hier so hinein lauscht: Hier brummt wirklich nichts. 

TK: Oh ja, auf jeden Fall. Ich empfinde alles Nebengeräusch als äußerst nervig. Ich glaube auch, dass die Umgebung jeweils für die Musik prägend ist. Wenn du z.B. in einer Stadt wie New York bist, da ist ein derartiger Geräuschpegel 24 Stunden am Tag – dem kannst du dich einfach nicht entziehen. Ein echter Overkill an Sinnesreizen, wenn du mal eine Zeit am Time Square verbringst. 

Kesslers Kreativwerkstatt. (Bild: T. Kessler)
Einblick in Thomas Kesslers Kreativwerkstatt. (Bild: T. Kessler)

Da ich selbst schon öfters dort war, kann ich das bestätigen. Und ich habe auch den unmittelbaren Kontrast erfahren, immer wenn ich dann von dort aus meine Verwandten in Connecticut besucht habe, wo es doch viel ländlicher geprägt deutlich ruhiger ist.

TK: Das bringt mich auf einen weiteren Gedanken. Ich finde, es ist auch sehr wichtig, zu schauen, woher man selber kommt. Auch wenn das erstmal natürlich viel weniger aufregend klingen mag, wenn man wie ich in Viersen in ganz normalen Verhältnissen aufgewachsen ist. Ich bin irgendwann ganz bewusst auf diesen Gedanken gekommen: Auch wenn einem seine urvertraute Welt unspektakulär erscheinen mag, so ist es doch wichtig, da mal genau hinzugucken und sich zu fragen: Okay, wie ist denn nun der Sound vom Nebel über der Niers und den langen Pappelreihen im Herbst? Für jemanden, der aus den Alpen stammt, ist das schon etwas Exotisches, aber wenn du dort aufgewachsen bist, vermutlich eher nicht.

Ich glaube, es hängt sehr davon ab, was für ein Typ man selber ist. Ich kann tatsächlich mit diesem Moment sehr viel anfangen. Auch Langeweile kann etwas Wunderbares sein. Ich liebe es z.B. mich irgendwo an eine einsame Stelle an den Rhein zu setzen – da tuckern ein paar Rheinschiffe vorbei, aber sonst passiert da einfach gar nichts.

TK: Ja und genau aus dieser Stille heraus, da ist dann ein einzelner Ton eine Sensation. Und es ist aufregend, diesem hinterherzulauschen. Ich beschäftige mich eingehend damit, diese Prozesse aufzunehmen. Ich finde, wenn du – gerade auf dem Klavier – nur wenige Töne spielst und das entsprechend inszenierst, dann entwickelt die Musik eine unglaubliche Kraft. Nicht einmal, wenn du ständig im Forte und wahnsinnig schnell spielst, kommst es an diese Kraft heran.

Ist es die gesteigerte Aufmerksamkeit?

TK: Du musst natürlich vorbereitet sein, also es darf vorher erstmal nicht viel passiert sein, damit die Wirkung entstehen kann.

Thomas Kessler - Piano Diaries (Foto: Thomas Kessler)
(Bild: T. Kessler)

Thomas Kessler und das Klavier

Das auf dem Klavier umzusetzen ist eine echte Herausforderung. Wie hast du das Klavier für dich entdeckt? 

Es ist schon lustig, eigentlich kam das Klavier zu mir. Wenn überhaupt, dann wollte ich Rockmusiker werden. Meine Idole waren die Heroes der 60er und 70er… 

… Keith Emerson und John Lord? 

TK: Es ging mir gar nicht mal um schwarze und weiße Tasten. Es war vielmehr die Attitude dahinter. Das fand ich einfach cool. Ich wusste gar nicht mal, ob ich selber auch Rockmusik machen wollte. Allerdings hat damals mein älterer Bruder bereits in Rockbands gespielt. Er studierte Musik-Pädagogik und brauchte für den Theorieteil ein Klavier. 

... eigentlich kam das Klavier zu mir.

Also stand bei uns zu Hause irgendwann so ein altes verschrammeltes Klavier, das mein Bruder für 50 Mark irgendwo her besorgen konnte. Gereizt hat mich das schon, aber ich habe erstmal nur herumexperimentiert. Allerdings mit Kassettendeck und Mikrofon. Ich habe nur Geräusche erzeugt und aufgenommen. Bis irgendwann meine Mutter den Deal vorschlug, dass ich Klavierunterricht nehme, wenn sie eine Klavierstimmung bezahlt. Ich schlug ein (lacht). So begann mein klassischer Klavierunterricht, wobei mir das Notenlesen echte Schwierigkeiten bereitet hat. Ich konnte immer besser vom Gehör spielen. Aber mich faszinierte die Musik auch nicht.

Wann kam der Kick?

TK: So etwa im Alter von 17 Jahren habe ich dann die Preludes von Debussy entdeckt. Das war für mich zum ersten Mal klassische Musik, die ich richtig klasse fand und wo ich dachte: Das ist eigentlich das, was ich spielen will. Aber meine Fähigkeit, Melodien und Harmonien herauszuhören, kam da an ihre Grenzen. Und mir wurden zwei Dinge bewusst: Mit dem Klavierunterricht, das war’s, aber ich wusste nun, welche Musik ich machen wollte. Also habe ich geschaut wie es weitergehen kann. Ich fand dann einen Jazz-Workshop, den der Jazz-Bassist Ali Haurand bei uns in Viersen gab. Und er hat mir dann meine neuen Klavierlehrer organisiert. Das war Rob van den Broeck, John Taylor und auch Jürgen Dahmen, mit dem ich dann später gemeinsam bei Trance Groove gespielt habe. Und so habe ich dann eher auf intuitive Weise zu der Musik gefunden, die ich machen wollte. Also wie Debussy und Satie, aber aus dem Moment heraus.

Du meinst in einer Weise improvisiert?

TK: Ich meine schon mal „intuitiv komponiert“, aber damit auch nicht improvisiert. Ich habe den Anspruch, nicht mit irgendetwas herumzudaddeln oder irgendwelche Patterns abzurufen. Es kommt der erste Ton und der zweite ergibt sich aus dem ersten und so weiter. Soweit, bis es dann gespielt klingt wie eine geplante Komposition. So sind z.B. die Piano Diaries entstanden. Daran kann man auch hören, dass das alles ein Prozess ist.

Thomas Kessler - Piano Diaries: 20. März

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Die Piano Diaries haben tatsächlich so ein exploratives Element, wo sich ein ständiger Fluss von einem Ton in den nächsten ergibt. Gehst du das mehrfach durch oder nimmst du das als einzelne Passagen auf?

TK: Nein, ich drücke auf Record, nehme an einem Stück auf. Ich drücke Stop, und das ist dann das Stück. Ich spiele kein Stück ein zweites Mal. Jedes Stück von den Piano Diaries ist ein first take.

Wie bist du auf die Idee zu den Piano Diaries gekommen?

Also das war eigentlich ein Geschenk zum 85. Geburtstag meiner Mutter. Sie hatte mir damals aus ihrem Sparvertrag ein nagelneues Kleinklavier von Yamaha gekauft. Das Klavier hat mich dann mein ganzes Leben lang begleitet und ich habe es über die Jahre auch wirklich heruntergespielt (lacht).

Die Idee zu den Piano Diaries war ganz einfach die: Jeden Sonntag sollte auf diesem alten Klavier ein Stück entstehen, das ich mit einfachsten Mitteln aufnehme und auf Youtube stelle. Ich habe zwar hier den ganzen Technikkram, aber das war ganz einfach mit einem iPhone gemacht. Das habe ich ein ganzes Jahr lang durchgezogen. Und es war für mich auch Neugier dabei – ich wollte herausfinden, wie viel Musik denn eigentlich in mir lebt. Die Stücke haben dann auch oft gewisse Ähnlichkeit. Vielleicht begründet sich das auch dadurch, dass ich einen relativ niedrigen Ruhepuls habe. Ich glaube, dann wird auch die Musik eher ruhiger sein.

Le Son des Couleurs / Der Klang der Farben: Gris Clair

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Das „Parfüm“ Kessler: Vielseitigkeit

Wenn man sich auf deiner Homepage die Liste deiner Veröffentlichungen anschaut, dann bist du in sehr vielen verschiedenen Genres unterwegs – Piano Solo ist da nur eine Facette deines musikalischen Schaffens. 

TK: Die meisten Leute brauchen ja immer so ein Label für einen Musiker, eine Kategorisierung. Aber ich habe mich immer schon für die verschiedensten Sachen interessiert. Und diese verschiedenen Richtungen sind ja nicht beliebig zu mir gekommen. Das hat schon alles mit mir zu tun. Wenn mich Leute kennen und die verschiedenen Sachen hören, dann stellen sie immer wieder fest, dass da immer dieses „Parfüm Kessler“ dran ist. 

Da läuft für mich dann der rote Faden zusammen – egal, was ich mache – und wenn es irgendwelches „Café del Mar“-Zeug ist – die Sachen kommen letztendlich aus meinem Farbmalkasten. Das bin immer ich, und das ist immer auch authentisch und macht damit den wichtigen Unterschied zwischen Vielseitigkeit und Beliebigkeit aus. Es kann schon sein, dass dem einen oder anderen Zuhörer ein Stück aus einem anderen Genre dann weniger gefällt … 

Das soll ja vorkommen, aber was kann man letztendlich Schlechtes über Vielseitigkeit sagen? In einem selber trägt man ja auch verschiedene Seiten und musikalische Ausprägungen mit sich herum. 

TK: Inzwischen bin ich mir sicher, dass es unter Marketing-Aspekten keine besonders gute Idee ist, zu viele verschiedene Sachen herauszubringen. Was du aber beschreibst, trifft eher auf den Musikkonsumenten zu, der für jede Lebenslage den passenden Soundtrack haben möchte. Das ist ja etwas Wünschenswertes, denn es drückt ja die Vielfalt aus. Für einen Künstler aber kann das echt schwierig werden. Denn du musst schon wie eine Art Marke dastehen können in der Wahrnehmung der Zuhörer. 

Ich würde sogar sagen, selbst wenn du dich nur in einem Genre bewegst, kann eine zu starke emotionale Berg- und Talfahrt innerhalb eines Albums tödlich sein. Bei meinen ersten Jazz-Alben habe ich das so gemacht. Zu dieser Zeit ging das noch, weil damals glaube ich das Hörverhalten auch noch etwas anders war. Aber das kann auch schon anstrengend zu hören sein. 

Heute leben wir ja in einer Zeit der Playlists. 

TK: Genau – man stellt ein Genre ein und kann dort für Stunden bleiben, um ähnliche Musik zu hören. Früher hätte ich darüber vermutlich die Nase gerümpft, aber heute habe ich damit gar kein Problem. Im Gegenteil. Dieses Hörverhalten kommt sogar dem sehr nahe, was ich mit den ruhigen und meditativen Klaviersachen mache. Und wenn mir dann jemand sagt, dass meine Musik für ihn der perfekte Soundtrack beim Bügeln ist, weil er so seine Gedanken tief in die Nähte bügeln kann oder was auch immer, dann ist das für mich ein großes Lob. Früher hätte man vielleicht gesagt: Pfui, Fahrstuhlmusik. Aber nein! Es ist total toll, wenn du ein Stück sozusagen zum Soundtrack des Lebens der Leute machen kannst. 

Fahrstuhlmusik, Muzak, Funktionsmusik. Ich glaube da steht schnell auch das Missverständnis oder der Vergleich mit zweckgebundener Musik im Raum. Musik eben, die uns im Supermarkt mehr Einkaufen lässt usw. 

TK: Aber stell dir vor, du gehst so vor: du sagst nicht „Bügeln ist belanglos, also mache ich eine belanglose Musik und dann wird’s schon passen.“ Sondern: „Nein, Musik hat im Prinzip diese spirituelle Kraft, wie sie sich auch bei ständig wiederholten Handlungen einstellt. Und die Musik, die ich für solche Beschäftigungen mache, möchte ich so gestalten, dass sie das maximal fördert.“ 

Was auch immer die Beschäftigung sein mag. 

TK: Das mit dem Bügeln ist natürlich eine Metapher. Wenn ich ein Stück Musik mache, dann stelle ich mir am liebsten als Zuhörer eine Person vor, mit der ich mich auch gerne unterhalten würde. Und diese Person befindet sich allein in einem Raum, in dem Stille herrscht. Und sie macht entweder nix oder etwas sehr wenig Dynamisches. Also kein Workout im Fitness-Studio – das wäre dann eine ganz andere Musik. Mir geht es um eine ruhige, konzentrierte Situation und wie könnte der Soundtrack dazu aussehen, dass die Musik diesen Moment möglichst perfekt ergänzt. Vielleicht so, dass du die Musik erst in dem Augenblick wahrnimmst, wenn du sie abschaltest. Und bis dahin – ganz ähnlich wie es bei Filmmusik ist – war die Musik ein „Geschmacksverstärker“ des ganzen Drumherum. Das finde ich so faszinierend an Musik, die scheinbar mit wenigen Mitteln daherkommt: Gerade wegen ihrer Einfachheit ist sie dazu in der Lage, Sinneswahrnehmungen zu intensivieren. Optimal ist es, wenn du als Hörer etwas in der Musik aufgreifst, ihr vielleicht für einen Moment ganz bewusst folgst und dann aber nicht dadurch enttäuscht wirst, dass sich etwa die totale Belanglosigkeit offenbart, sondern du feststellst, dass darin etwas für dich Bedeutendes steckt. Das ist mir wichtig. 

Denkst du beim Komponieren bewusst daran, eine Geschichte an einer bestimmten Stelle weiterzuspinnen oder kommt das intuitiv in dem Moment? 

TK: Ich würde sagen, das ist ein spezieller Mix. Am besten kann ich das wohl am Beispiel von Trance Groove oder – noch konsequenter – Stefan Krachtens Folgeprojekt Goldman beschreiben, wo wir als ganze Band im Prinzip so vorgingen. Wenn wir die Bühne betraten, dann stand  vorher eigentlich nichts fest – kein Beat, kein Tempo, kein Akkord, nicht mal eine Tonart. Irgendwer fing an, die anderen folgten und wir spielten zusammen. 

Andere würden es wohl als eine Jam-Session bezeichnen. 

TK: Auch hier ganz wichtig zu verstehen: Es ist nicht beliebig oder belanglos. Wir gehen auf die Bühne immer mit dem Anspruch, dem Publikum ein komplettes Stück Musik abzuliefern, das wie komponiert und arrangiert klingt mit Anfang, Mittelteil und Ende. Es kam regelmäßig vor, dass uns Leute nach den Gigs fragten, auf welchem unserer Alben ein bestimmtes Stück zu finden sei. Unsere Arbeitsweise war aber genau umgekehrt: wir haben Konzerte mitgeschnitten, um im Nachhinein aus diesem Material die Alben zu arrangieren. 

Trance Groove - Paris (2009)

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Trance Groove – eine faszinierende Band! Ich erinnere mich an ein geniales Konzert von euch damals im Kölner Radstadion: Playing with the Chelsea Girls. Da habt ihr live zu den Super-8-Filmen von Andy Warhol gespielt… 

TK: … und anschließend auch wieder ein Album daraus gemacht (lacht). Dazu gibt es eine schöne Geschichte. Die Filmoriginale wurden vom Kölner Filmverein aus dem Museum of Modern Art ausgeliehen – ein 3-Stunden-Werk. Und die haben uns gefragt, ob wir nicht live einen Soundtrack dazu spielen wollen. Also hat sich unser Drummer Stefan Krachten damals eine DVD besorgt, damit wir uns vorbereiten können. Aber wie bereitet man sich auf so etwas vor? 

Über drei Stunden Filmmaterial parallel auf zwei Leinwänden! Also haben wir uns dann viele Notizen gemacht und vage ausgearbeitet, was wir an welcher Stelle machen wollen. Dann hatten wir zwei DIN-A4-Seiten voll mit Notizen und Zeitangaben. Am Konzertabend dann kamen wir auf die Bühne, das Licht ging aus, der Film an – wir standen in vollständiger Finsternis und keiner konnte mehr entziffern, was auf dem Zettel stand. (lacht) Vielleicht konnte sich der eine oder andere noch an die ersten Notizen erinnern, aber das Ganze Ding hat sich dann über die drei Stunden Konzert hinweg komplett verselbständigt.

Da ich selber dort war, kann ich nur sagen: Grandios, wie sich praktisch aus dem Nichts heraus Musik entwickelt. 

TK: Das zieht sich durch die gesamte Aktivität von Trance Groove-Mastermind Stefan Krachten, eigentlich bis zum letzten Goldman-Album, das wir kurz vor Stefans Tod im legendären Kölner Club „Blue Shell“ aufgenommen haben. Ich habe die Aufnahmen später für ein Vinyl-Album bearbeitet und gemastert, wobei ich selber davor gesessen habe und häufig beim besten Willen nicht verstehen konnte, wie es möglich ist, dass da praktisch aus dem Nichts heraus komplette Stücke Musik entstehen. Seit diesen Erfahrungen mit Stefan und den grandiosen Kollegen bei Trance Groove und Goldman möchte ich gar nicht mehr anders Musik machen. Klar ist es ein Unterschied, wenn ich im Studio einen Track produziere, aber wenn ich live spiele, dann muss es so sein.

Thomas Kessler - In A Quiet Place

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Thomas Kessler – Piano Lullabies

Im April erschien ein neues Album mit Klavier-Solostücken von dir…

TK: Ja, die „Piano Lullabies“. Wenn der Lockdown auf einen Pianisten mit niedrigem Ruhepuls trifft, muss beinahe zwangsläufig so etwas dabei herauskommen (lacht).  Aber im Ernst – ein Freund brachte mich auf den Gedanken: seine Frau und er erwarteten ein Baby, und zum Einschlaf-Ritual gehörte ein Tablet mit Musik meines 2012er Klavieralbums Piano Diaries auf Mamas Bauch.

Die schon vertrauten Klänge entfalteten später auch an der Wiege ihren Zauber – anstelle der üblichen Spieluhr, und damit frei von den gängigen Klischees und Kitsch. Die Versuche mit eigenen Nichten und Neffen, den Babies von Freunden und auch den Freunden selbst bestätigten diese ersten Beobachtungen.

Und – zeigten die Kinder später eine Klavierbegabung?

TK: Dazu ist nichts überliefert (lacht). Das wäre aus meiner Sicht aber auch nicht das primäre Ziel. Mir ist eher das Urbedürfnis nach Ruhe und Geborgenheit wichtig, mit dem wir auf die Welt kommen und das uns ein Leben lang begleitet. 

Klangwelten für die Momente zu erschaffen, in denen wir Entspannung oder Kontemplation suchen, beschäftigt mich ja schon ein gesamtes Musikerleben lang, so wie ich es vorhin am Beispiel des Bügelns beschrieben habe. Oder eben für den wundervollen Zustand „zwischen den Welten“, wenn uns der Schlaf von unseren Alltagsaktivitäten abholt. Das Klavier ist in diesem Zusammenhang das ideale Werkzeug, um mit einer gewissen Selbstverständlichkeit zeitlose Melodien zu setzen, die ‚schon immer dagewesen zu sein scheinen‘, wie es mal eine Freundin beschrieb.

Wäre es also nicht schön, unserem Nachwuchs gleich von Beginn an einen passenden „Soundtrack für die stillen Stunden des Lebens“ mit auf den Weg zu geben? Musik, die uns auch mit Mitte 50 noch im Büro als Konzentrationshilfe dienen kann, ohne dass die Kollegen gleich komisch gucken? Mit einer Baby-Spieluhr wäre das sicher schwierig… (lacht).

Ein toller Gedanke! Danke für das interessante Gespräch.

Thomas Kessler im Web

Offizielle Homepage von Thomas Kessler

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